Da der letzte Eintrag einen langen emotionalen Rattenschwanz hinter sich herzog möchte ich heute über ein etwas “leichteres” Thema schreiben, das deutlich positiver und mindestens genauso wichtig ist wie die Symptome vom Borderline.

COPING MECHANISMEN

Was genau ist das und wofür wird es genutzt?
Coping Mechanismen (Deu.: Bewältigungsmechanismen) sind Fertigkeiten oder auch “Skills” (Eng.: Fähigkeiten) die Borderliner*innen dabei helfen sollen in Stresssituationen ihre Emotionen und ihr Handeln zu kontrollieren. Diese Skills sollen dem Betroffenem gesunde Lösungen aufzeigen damit Selbstverletzung und Selbstschädigung als inakzeptabeler Weg angesehen und somit nicht mehr als “Druckablass” genutzt werden.

Ich bin zwar belesen im Thema Borderline, aber da ich keine Psychologin/Therapeutin bin, kann ich nicht akurat wiedergeben was z.B. zum DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie) dazu zählt. Um das ganze jedoch für “Normalos” verständlich zu machen, möchte ich erläutern was meine Coping Skills sind und wie ich diese entwickelt habe.

Beginnen wir bei der Beobachtung.
Wichtig ist es für mich am Anfang gewesen zu verstehen und zu reflektieren was in Stresssituationen in mir vorging. Wie sahen meine Emotionen aus und waren sie angemessen für die jeweilige Situation. Es war wie ein Spiegel in den man wirklich ungerne schaut, weil er dreckig und kaputt ist. Und doch war das der erste Schritt um mich besser zu verstehen und mir Fertigkeiten anzueignen die mir helfen würden den Spiegel garnicht erst so verkommen zu lassen.

Ich beobachtete mich also selbst. Wie aus der dritten Person analysierte ich mein Emotionschaos und versuchte ein Schema zu erkennen. Ich schrieb manche Dinge nieder um mir die Erkenntnisse wieder in Erinnerung zu rufen, falls ich mal keinen Durchblick hatte. Es zeigte sich, dass ich in einem Großteil der Situationen extremer reagierte als es nötig war. Einfach daher, weil ich aus früheren Erfahrungen gelernt habe lieber “übervorsichtig” zu sein oder Personen direkt von mir “abzutrennen” um nicht verletzt zu werden. Dieses Verhalten hatte ich mir also antrainiert. Jetzt musste ich einen Weg finden dieses Verhalten zu umgehen und an einem anderen Ansatzpunkt neue Verknüpfungen zu bilden, die es mir ermöglichten Situationen erst zu analysieren und dann entsprechend zu reagieren.

Das klingt sehr stumpf, ist aber leider leichter gesagt als getan. Vergleichen kann man das ganz gut mit dem Toilettengang. Jeder benutzt immer die selbe Hand zum abwischen, so und nun stell dir vor du musst ab jetzt die andere Hand nehmen. Ungewohnt, komisch und vielleicht sogar unangenehm? Jipp. So ist das wenn man ein Verhaltensmuster ändert, dass man für Jahre oder gar Jahrzehnte angewendet hat.

Nun war es an der Zeit Fertigkeiten zu finden, die mich von den Situationen die mich überforderten, ablenken und mir die Möglichkeit gaben runter zu kommen bevor ich impulsiv handle.
Im Endeffekt kann das so ziemlich alles sein, was man gerne macht oder was aufjedenfall nicht in irgendeiner Weise zu etwas Schädlichem umgewandelt werden kann.

  • Malen/Zeichnen

  • Meditation/Yoga

  • Spaziergänge

  • Fotografie

  • Tanzen/Singen

  • Telefonieren

  • Häkeln/Stricken

  • Basteln

  • Nailart

  • Musik hören

  • Joggen/Sport

  • Musizieren

  • etc…

Wichtig bei diesen Fertigkeiten ist es, dass sie für den Betroffenen einfach umzusetzen sind, sodass er schnell die Möglichkeit hat sie anzuwenden. Sie dürfen aber auch nicht zu einfach sein und sich so schnell als Niete herausstellen. Am besten ist es wenn man sich etwas länger damit beschäftigen kann und es keine kurzweilige Zwischenlösung ist.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Sport und/oder Essen kochen hier bitte mit Vorsicht zu genießen sind wenn man zur Borderline Störung an einer Essstörung leidet!
Es ist nicht im Sinn der Genesung die schlechten Reaktionen mit anderen ebenfalls ungesunden Strategien zu tauschen!

So und nun hab ich ein Haufen toller Skills, wie wende ich die denn jetzt an? Und wie können Aussenstehende dabei vielleicht sogar helfen?

Hier kommt wieder der Aspekt der Distanz und Beobachtung ins Spiel. Wenn man sich mit den eigenen Reaktionen und Emotionen etwas vertraut gemacht hat, erkennt man irgendwann Anzeichen für eine eventuelle Krisensituation. Genau da ↓, genau dort ↓, da setzte ich meinen Skill an. Welcher Skill am Ende der Beste für welche Situation ist, ähnelt einem Hütchenspiel. Trial and Error, ist die Devise. Manchmal hilft es einfach nur den Druck “wegzutanzen” und manchmal ist er so stark, dass man doch lieber Laufen oder Boxen muss. Situationen in denen ich schlecht analysieren kann wie ich vorgehen soll, bedürfen etwas länger andauernde Fertigkeiten. Also Male ich Zentangles oder male ein Portrait auf meinem Ipad.

Was am Ende funktioniert, kommt auf die jeweilige Person an und natürlich auch auf ihre eigenen Vorlieben.

Wie können da nun Aussenstehende agieren?
Erstmal muss geklärt sein ob der/die Betroffene das auch möchte. Zwar ist eine gute Soziale Basis - wie auch im letzten Beitrag erwähnt - eine wichtige Grundlage zur Heilung, trotzdem muss der/die Betroffene selbst entscheiden ob er/sie es gerade schafft auch andere Menschen um sich herum zu haben oder ob er/sie zu erst seinen/ihren eigenen Weg finden muss. Am Anfang musste ich mich erstmal selbst verstehen. Ich musste lernen wie ich mein Verhalten bessern kann und konnte mich garnicht darauf einlassen, dass mir andere helfen wollten. Irgendwann jedoch, als ich für mich meine Coping Skills entdeckt und festgelegt hatte, mobilisierte ich meine Mitmenschen und erklärte ihnen womit sie mir helfen können. Das sind für mich zum einen Telefonate. Nichts geht schneller als der Griff zum Telefon und gerade in akuten Krisen ist es wahnsinnig hilfreich für mich gewesen, schnell eine andere Meinung einholen zu können und mir Rat zu sichern. Zum anderen sind es für mich gemeinsam meine Lieblingsfilme/Serien zu gucken. Dabei muss ich mich nicht unterhalten, ich tauche ab in eine andere Welt und habe aber meinen festen Bezug zur Realität neben mir sitzen.

Es gibt natürlich noch viele andere Möglichkeiten wie Aussenstehende mithelfen können, am besten ist es da aber einfach mit dem/der Betroffenen einen gemeinsamen Weg zu finden.

Und was ist wenn ich nicht die Möglichkeit habe die gelernten Skills anzuwenden. Was ist wenn ich doch impulsiv reagiere oder gar in Selbstverletzendes Verhalten falle?
Erstmal - Atmen! Kein Meister ist vom Himmel gefallen und gerade wenn es um Borderline geht sind Probleme nicht mal eben so beseitigt und erlerntes Verhalten nicht mal schnell umgepolt.

Wenn kein Skill gerade anwendbar ist -sei es z.B. weil man nicht in seiner gewohnten Umgebung ist oder sich gerade absolut auf nichts konzentrieren kann- so wäre eine neue Fertigkeit eine Option, etwas was gerade in dieser speziellen Umgebung möglich ist. Du stehst am Bahnhof und fühlst dich absolut überwältigt, Musik hören bringt nichts und du hast auch sonst keine Idee was du gerade machen kannst um dir selbst zu helfen. Wie wäre es damit die nächste Person anzusprechen und sie einfach zu fragen woher sie die schicken Schuhe her hat und ihr einen schönen Tag zu wünschen? Vielleicht hilft auch ein Sprint zum nächsten Bahngleis oder wenn du dich in der Nähe eines Parks befindest rennst du einfach los, bis du nicht mehr kannst. Etwas entspannter könnte es auch sein, einen Hundebesitzer anzusprechen und vielleicht mit seinem Hund zu kuscheln. Tiere können wahre Wunder bewirken.

Solltest du zu Hause sein und du spürst ein starkes Verlangen dich selbst zu verletzen und keiner deiner Skills hilft dir gerade, so kann eine “Sinneskiste” hilfreich sein. Für jeden Sinn befinden sich verschiedene Dinge in dieser Kiste.

Beispiel:

Stress Extremer Stress

Sehen: Bilder/Erinnerungen Filme/Kaleidoskop

Riechen: Parfume/Ätherische Öle Amoniak/Kaffeebohnen

Schmecken: Brause/Mentholbonbons Chili/Pfefferkörner

Hören: Klangschale/Regenmacher Musik/Pfeife

Fühlen: Federn/Wolle/Fell Holz/Stein/Igelbälle


Was du am Ende rein packst ist dir überlassen. Wichtig ist nur, dass du dich mit den Gegenständen nicht selbstverletzen kannst.

Und nochmal möchte ich klar machen, dass dies keine Tipps eines Profis sind. Dies sind die Dinge die mir helfen und die ich so selbst anwende. So gehe ich mit meinem Borderline um.

Und auch ich habe Tage und Momente in denen Nichts von dem klappt und ich mich einfach nur schlecht fühle. Man muss lernen auch das zu akzeptieren und je mehr man sich selber reflektiert, desto einfacher wird dieser Schritt.

Ich hoffe mit diesem Beitrag vielleicht ein paar Anregungen gegeben zu haben.
Vielen Dank für’s lesen!
Angi

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