Phasen
SENSIBLER INHALT
Die letzten Monate zogen sich wie Kaugummi, jeder Tag unendlich lang und doch verfolgte mich die Angst zu schnell zu leben, zu schnell am Ende meiner Tage zu sein, zu schnell ….einfach zu schnell und doch so quälend langsam…
2. November 2021, 8:55 Uhr ich stehe, wie schon immer, pünktlich vor der Haustür meiner Therapeutin. Ich habe sie die Woche davor angerufen und nach neuen Terminen gefragt, weil ich erneut an einem Punkt angekommen war, den ich selbst nicht bewältigen konnte. Der Termin verlief, als wären keine 2 Jahre seit dem letzten Termin vergangen. Meine Therapeutin erinnerte sich an alles, was ich ihr zuletzt erzählt hatte und ich fühlte mich direkt wieder geschützter und hoffnungsvoller.
Einige Wochen davor begannen Panik Attacken meinen Alltag zu stören. Es begann mit leichtem Herzrasen und Atembeschwerden. Ich dachte, dass geht schon wieder weg und versuchte mir selbst zu helfen mit physchologischen Büchern über Angststörungen und verschiedene Techniken Panik Attacken zu umgehen. Leider wurden die Attacken nur schlimmer. Nun dauerten sie manchmal bis zu einer Stunde, begleitet von Herzrasen, Übelkeit, Hyperventilation oder Atemnot und unkontrollierbarem Zittern sowie Zuckungen und Verkrampfungen. Dies sind natürlich nur die köperlichen Beschwerden, die psychischen waren weitaus unerträglicher… Je länger und häufiger ich die Attacken hatte, desto tiefer fiel ich erneut in ein dunkles Loch. Ein anderes, noch nicht bekanntes Loch…
Die Angst, die die Attacken auslöste, kannte ich bereits… sie war eine sehr sehr alte Bekannte aus meiner Kindheit. Die Angst vorm Sterben. Die unausweichliche und unkontrollierbare Gewissheit eines Endes…
Meine Therapeutin konzentrierte sich vorallem darauf, den Attacken keinen Raum zu lassen und meine Gedanken auf das Hier und Jetzt zu lenken. Was mir dann plötzlich garnicht mehr so schwer fiel, denn ich kam einem großen Traum sehr sehr nahe, konnte ihn schon fast anfassen, arbeitete jeden Tag stundenlang an der Umsetzung und gab mein Herz und Hirn in jeden Aspekt dieses Traumes - dann platzte er.
Aus die Maus. Du hast es verkackt. Bist nicht genug. Deine Idee war nicht überzeugend. Loser.
Der immense Stress dem mein Körper wochenlang ausgesetzt war, verleitete mich dazu viel auszuruhen, zu liegen, zu weinen, zu schlafen. Ich vernachlässigte jegliche Körperhygiene, wechselte oft tagelang meine Kleidung nicht und konnte mich nichtmal aufraffen Essen zuzubereiten. Ich verschanzte mich auf dem Sofa, traf keine Freunde mehr und konnte irgendwann nichtmal mehr alleine rausgehen um einzukaufen oder Atlas Gassi zu führen. Ich begann ausgelaugt von Dingen zu sein, die ich vorher gerne bzw. locker gemacht habe. Ich hatte keine Energie mehr meinen Freunden zuzuhören, keine Energie mehr an einem “normalen” Alltag teil zu nehmen. Ich weinte viel und fühlte mich innerlich leer und gleichzeitig so voller Traurigkeit und dunkler Gedanken. Ich hatte keinen Willen mehr, keine Lebensfreude. Ich bestand nur noch aus dunkler Materie…
Was war dieser dunkle Ort?
- “Sie befinden sich in einer depressiven Phase” -
Ich wusste nicht, was ich mit dieser Aussage anfangen sollte. “Eine Depression ist es nicht.” - ausserdem sollte ich mich nicht so auf “Diagnosen” fokussieren und mich in Schubladen stecken, sagte mir meine Therapeutin.
Ist das aber nicht irgendwie mein Ding?
Mir fällt es auch leichter mein Verhalten zu verstehen, wenn es sich in einer bestimmten Kategorie befindet. Deswegen ist der Begriff “depressive Phase” so unerträglich vage. Der erste wackelige Stein war gesetzt. Ich begann mich unverstanden zu fühlen und als wenn ich eine Belastung für die Menschen um mich herum war. Ich erinnerte mich an den Satz einer (jetzt) ehemaligen Freundin aus November: “Erzähl du doch zuerst, dein Leben ist ja nicht so spannend” - ein Schlag mit der Faust ins Gesicht wäre weniger schmerzhaft gewesen.
Meine Therapeutin begann mit jeder Sitzung auf die “starke Angelina” zu pochen. Ich hasse diese Betitelung. Von mir wurde immer verlangt “stark” zu sein. Die Menschen um mich herum, verließen sich darauf, dass ich “stark” bin, denn so konnten sie sich von meiner Energie nähren und mich als Trittbrett für ihre Lebensentwicklung nutzen - und ich, dumm wie ich war, ließ es auch noch zu.
Die Spalte zwischen mir und meiner Therapeutin wurde größer und ich merkte, dass wir keine Fortschritte mehr machten…
Und das obwohl ich das Gefühl hatte wenigstens kleine Schritte vorwärts zu machen. Ich begann mit meinen alten Skills zu arbeiten; Malen, Basteln, Schreiben… Hauptsache die Energie der negativen Emotionen nutzen und es nicht in mich hineinfressen. Mit To-Do-Listen half ich mir auf die Sprünge, erledigte kleine Aufgaben um mich danach auszuruhen, weil es mich soviel Energie kostete “typische” Erwachsenen Dinge wie Einkaufen oder Putzen zu erledigen. Ich begann mir selbst auch wieder mehr Zuwendung zu schenken.
Ich schaffte es wieder regelmäßig zu Duschen, mich einzucremen und Zähne zu putzen. Ich traute mich wieder Freunde zu treffen, Auto zu fahren und alleine in die Stadt zu gehen… Und dann hatte ich am 03.05. meinen letzten Therapie Termin, bevor meine Therapeutin für fast 4 Wochen Urlaub machte/macht. Der Termin war intensiv, denn sie hatte mich gefragt wie ich unsere Therapie bewerten würde… Ich war ehrlich und erzählte, dass ich mich wenig unterstützt fühlte und wie eine Belastung. Puuhh… das hat ein sehr emotionales Gespräch nach sich gezogen. Zum ersten mal in dieser Therapie bröckelte meine Maske und ich konnte mich vor überquellenden Tränen kaum retten. Ich verlor meine aufgesetzte Leichtigkeit und saß wie ein Häufchen Elend auf dem Therapie-Sofa. Sie sagte mir, dass sie nun endlich die “wahre Angelina” vor sich sitzen hätte und wer diese Angelina kennt. - Jonas und Sie…
Ich konnte sie kaum ansehen, meine Stimme zitterte und mit jedem Wort hatte ich das Gefühl zu ersticken. Ich fühlte mich entblößt, verletzt, aufgeweicht. Ich wollte nur noch, dass der Termin endet… Aber nicht ohne einen neuen für den 02.06. zu machen…
Du fragst dich vielleicht wieso? Auch wenn es vielleicht brutal und schmerzhaft war, so hat mich dieser Termin über eine Schwelle gebracht, die ich überwinden musste um in meiner Heilung voran zu kommen. Und ich bin mir sicher, dass meine Therapeutin das wusste.
Es ist nun noch eine Woche bis zum nächsten Termin und ich habe versucht die Wochen mit guten Dingen zu füllen. Mich immer wieder herauszufordern und in den Situationen in denen es wichtig war, Pausen einzulegen und mir Ruhe zu gewähren. Ich bewege mich momentan pendelnd durch die unterschiedlichen Phasen. Mal voller Energie und Schöpfungskraft. Mal völlig leer und frei von positiven Gedanken. Und wem es bis hier noch nicht aufgefallen ist: Hallo Borderline…
Danke für’s lesen!
Angi ♥